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Das Phänomen der Hochstapler



Das Märchen der Gebrüder Grimm "Der Gestiefelte Kater" erzählt die Geschichte eines Müllerssohnes. Als der Vater stirbt erbt der Älteste die Mühle, der Mittlere den Esel und der Jüngste die Katze. Der Jüngste akzeptiert sein "maues" Erbe nicht und erfindet mit Hilfe des geerbten Katers eine neue Identität – den Grafen von Carabas. Der Kater repräsentiert sein Alter Ego und übernimmt für ihn den Prozess der Verwandlung. Der junge Mann kann so vermeintlich unschuldig bleiben, weil der Kater alle Ränke schmiedet.


Bei Hof erzielt der Kater die Gunst und das Vertrauen des Königs durch die Lieferung von Rebhühnern und baut somit eine persönliche Beziehung auf. Nun legt er den Köder aus. Wie ein Fisch im Wasser wartet der vermeintliche Graf auf die Rettung des Königs. Der König zieht den Grafen an Land und hilft ihm, da er glaubt, dass er überfallen wurde. Der Müllerssohn hat nichts zu verlieren, da er nichts hat, dass wird ganz deutlich als er nackt in den See steigt. Er geht arm ins Wasser und kommt als gemachter Mann heraus.


Der König kleidet ihn seines neuen Standes entsprechend ein. Er nimmt ihn mit der Kutsche mit und sie durchqueren die Ländereien eines bösen Zauberers, die aber als die Güter des Grafen von Carabas ausgegeben werden. Mit einer List besiegt der Kater den bösen Magier und das Schloss und alle Besitztümer gehören nun dem vermeintlichen Grafen. Durch die Hochzeit mit der Königstochter erlangt der Müller dann den echten Stand eines Adligen. Der Müllersohn lebt das Silicon-Valley Mantra: Fake it – till you make it.


Ich schreibe über dieses Märchen, weil die Schwindler in der Realität ganz ähnlich handeln. Der Streaming-Anbieter Netflix hat im Februar die True Crime Mini-Serie "Inventing Anna" und den Doku-Film "Der Tinder-Schwindler" veröffentlicht. Beide Hochstapler haben ihren Namen wie der Müllerssohn geändert. Sie gaben sich aber nicht mehr als Adlige, sondern als steinreiche Erben aus. Es geht also nicht mehr um die edle Herkunft des Adels, sondern einzig allein, um wie viel Geld man eines Tages besitzen wird und welche Privilegien der Person in Aussicht stehen.


Sowohl Anna Sorokin – alias Anna Delvey – als auch Shimon Hayut – alias Simon Leviev – warfen nur mit dem Geld um sich, als konnten sie es nicht schnell genug loswerden. Jeder sollte ihr Vermögen sehen. Die Geldscheine blendeten die Menschen, um sie herum, dabei kamen beide eher aus bescheidenen Verhältnissen. Ihnen gelang es ihre normale Herkunft mit Hilfe von übermäßigen Konsum zu überblenden.


Wenn man der Erzählung glauben schenken will, so wollte Anna Sorokin niemand betrügen, um des Konsumes wegen. Sie träumte von einem eigenem Imperium. Sie wollte einen exklusiven Privatclub aufbauen, um ihre neue Identität wahr werden zu lassen ählich wie Elizabeth Holmes mit ihrem zweifelhaften Start-Up Theranos. Im Gegensatz dazu steht Shimon Hayut. Er suchte auf Tinder nach unabhängigen und finanzstarken Frauen, die nach einem Traum-Prinzen suchten. Er überschüttete sie mit Geschenken, romantischen Versprechungen und einem luxuriösen Lebensstil. Dann inszenierte er eine Notlage – ähnlich wie der "überfallene" Müller im Märchen, um so an ihr Geld zu kommen.


Anna und Shimon nutzten auch soziale Medien wie Instagram, um ihren schier endlosen Reichtum darzustellen. Sie machten Selfies von sich im Privatjet oder an Sehnsuchtsdestinationen des Jet Sets. Außerdem kleideten sie sich mit den teuersten Marken. Diese Inszenierung half dabei ihr Profil als Erben glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Sowohl Anna als auch Shimon eigneten sich den Habitus der neuen Superreichen an. Ihre Definition von Luxus war purer Hedonismus: Prassen, protzen und präsentieren.


Anna und Shimon wurden als Blender enttarnt, dennoch ging ihre Märchengeschichte nicht schlecht aus. Anna ist nun weltberühmt und wurde angeblich von Netflix mit über 300.000 US-Dollar für ihre Posse entlohnt. Shimon soll im Gespräch für eine Fernseh-Dating-Show sein. Die Dreistigkeit ihr eigenes Narrativ zu erschaffen hat ihnen neue Türen geöffnet. Ihr Handeln bleibt moralisch verwerlich, dennoch faszinieren sie die Menschen im guten wie im schlechten Sinne, weil sie sich von sozialen Grenzen nicht beeindrucken ließen, um an ihre eigennützige Ziele zu gelangen.

Bild: Netflix | Inventing Anna

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